5. Januar 2023

Wo zu viel Stille herrscht – die Gefängniskinder von La Paz

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Stickig sind sie, die Straßen von La Paz. Die Sonne geht gerade auf. Aber Dra Alejandra und ihr Team möchten jede Minute des Tages ausnutzen, denn der heutige Einsatz wird zeitintensiv. Und nicht nur das: Es wird auch ein Tag voller bedrückender Momente sein, voller beklemmender Eindrücke und schockierender Erfahrungen. Denn heute besuchen sie mit ihrem Bus der Street Doctors das Frauengefängnis von La Paz.

Nur ca. 15 Minuten Fahrstrecke vom Hospital Arco Iris entfernt, gleicht es doch dem Eintritt in eine fremde Welt. Nachdem sie die dicken Gefängnismauern und Kontrollen passiert haben und durch die Tore in den Innenhof gelangt sind, wird das Team der fahrenden Ambulanz zunächst von den Frauen begutachtet, die hier verstreut sitzen. Jedes Mal ein seltsamer Moment. Wo wären sie wohl jetzt, wenn sie in anderen Verhältnissen aufgewachsen wären, in einem einfacheren Leben und nicht die Möglichkeit für eine gute Ausbildung genossen hätten? An die 320 Frauen sind derzeit hier in Gefangenschaft, mit ihnen oft ihre minderjährigen Kinder. Diebstahl, illegaler Drogenbesitz… die Gründe für ihre Inhaftierungen sind so verschieden wie die Frauen selbst – die zugrundeliegende Problematik hingegen gleicht sich oft aufs Haar. Wer auf den Straßen der Millionenstadt aufwächst, ohne Schutz, mittellos, dem bleibt oft nur der Weg in die Kriminalität, um sich durchzuschlagen. Am schlimmsten trifft es die jüngsten und schwächsten der Gesellschaft. Und so landen viele hier, im Frauengefängnis von La Paz. Auch hier haben sie kaum eine Menschenseele, die sich ihrer annimmt. Dennoch gibt es auch in diesem Leben ein paar Lichtblicke für sie – Dra Alejandra und ihr Team sind einer davon.

Als die Street Doctors eintreffen, hocken viele der Frauen an langen Holztischen und frühstücken. Dazwischen Mädchen und Jungen verschiedensten Alters, die Jüngsten sind noch kein Jahr alt. Sie bekommen die gleichen Mahlzeiten und Getränke wie ihre Mütter. Auf eine gesunde und kindgerechte Verpflegung wird hier keinerlei Wert gelegt. Und erst nach ein paar Momenten wird einem bewusst, was inmitten all dieser Kinder besonders befremdlich ist: die ungewöhnliche Stille die hier herrscht. Hinter diese Gefängnismauern, so scheint es, kann nicht einmal Kinderlachen dringen. Große, ängstliche Augen verfolgen das Team beim Durchqueren des Hofs Richtung Behandlungsraum. Ausdruckslose Gesichtchen, ohne jedes Minenspiel. Viele der Kinder kennen das Leben außerhalb dieser Mauern nicht. Das Gefängnis ist ihr Zuhause. Aber es ist kein Zuhause, wie es ein Kind haben sollte. Es fehlt hier an Allem. An Bildung und Spielsachen. An ausgewogener Nahrung und sauberer Kleidung. An Gesundheitsvorsorgen und Medikamenten. Vor allem aber fehlt es diesen kleinen Menschen an Liebe. Liebe, Geborgenheit und Würde. Die Kinder, die hier wohnen, können keine Kinder sein.

Weiter geht es durch ein Gebäude und an einigen Zellen vorbei. Aus ein paar kommt der beißende Geruch von rauchbarem Kokain. Wer hier lebt, atmet zwangsläufig diese vergiftete Luft auch ein. Das gilt für Inhaftiere ebenso wie für Kinder und Säuglinge. Im Behandlungsraum angekommen, warten bereits ein Dutzend Frauen und Kinder auf das Team. Das letzte Mal waren sie vor gut zwei Wochen hier und haben einigen Patienten helfen, sowie bei der Hälfte der Kinder Vorsorgeuntersuchungen durchführen können. Immer wieder werden bei diesen Untersuchungen auch Spuren von Missbrauch und Gewalt sichtbar. Oft ist es für das Team kaum mehr zu ertragen. Aufhören ist dennoch keine Alternative. Wenn sie nicht kommen, sind die Frauen und Kinder hier wirklich von jeder medizinischen Versorgung ausgeschlossen.

Nachdem Dra Alejandra vier eiternde Wunden versorgt und desinfiziert hat, kommt eine junge Mutter mit ihrem zweijährigen Sohn auf dem Arm zu ihr. Der Junge schwitzt und wirkt unfassbar schlapp. Kaum kann er seinen kleinen schwarzen Wuschelkopf selber halten. Behutsam nimmt ihn Dra Alejandra entgegen und legt ihn auf die dunkelblaue Liege. Sein Name ist ‚Anthoan‘ erklärt seine Mutter, die dann von anhaltendem Durchfall, Erbrechen und Fieber erzählt. Die Ärztin nimmt sich Zeit und hört den Erläuterungen genau zu. Sie fragt nach, wie lange das Kind schon an den Symptomen leidet, was es gegessen und ob es bereits Medikamente erhalten hat. Sie erfährt, dass der Bub schon über zwei Wochen kaum isst und immer wieder wegen starker Schmerzen weinen muss. Medikamente bekam er bisher nicht. Das geschulte Auge der Ärztin sieht schnell, dass der kleine Patient bereits stark unterernährt ist. Vorsichtig zieht sie ihm Pullover und Hose aus. In Höschen und Hemdchen stellt sie ihn auf eine Waage. Seine dünnen Beinchen wirken so zerbrechlich, dass selbst Dra Alejandra Bedenken hat, er könne gleich umkippen. Die Waage zeigt es dann schwarz auf weiß: Nur knapp 10 kg bei einer Größe von 85 cm, das bedeutet starkes Untergewicht – kein Wunder, dass der Junge so schwach ist. Weitere Untersuchungen ergeben außerdem, dass eine starke Dehydrierung vorliegt – höchstwahrscheinlich durch den anhaltenden Durchfall. Während aller Untersuchungen lassen Anthoans große dunkle Augen seine hilflose Mutter nicht aus dem Blick. Die Ärztin ist sehr gründlich – hier ist ganz akut die richtige Hilfe und Therapie nötig, um dieses kleine Leben noch zu retten. Einen Fehler kann sie sich nicht erlauben.

Durch eine Stuhlprobe lässt sich letztlich der Grund feststellen: Der Darm ist von Parasiten befallen; keine Seltenheit hier im Gefängnis, wo die hygienischen Bedingungen extrem schlecht sind. Der Junge bekommt Medikamente zur Bekämpfung der Parasiten verschrieben, zusätzlich sollen Dehydrierungssalze seinen Wasserhaushalt regulieren und ihn wieder auf die Beine bringen. Dra Alejandra gibt klare Anweisungen an die Mutter, wie und wann die verschiedenen Tabletten und Tropfen einzunehmen sind. Der Kleine wird wieder angezogen. Seine Mutter nimmt ihn dankend hoch, und die kleinen dünnen Ärmchen klammern sich um ihren Hals. Die Ärztin sieht es mit Wohlwollen: Wenn die Therapievorschriften eingehalten werden, wird es Anthoan bald wieder bessergehen. In 14 Tagen will sie nochmal vorbeisehen, und gegebenenfalls noch Vitamine und Nahrungsergänzungsmittel verabreichen. Dann, so ist sie sich sicher, wird er wieder ganz gesund werden.

Bis dahin werden die Street Doctors drei weitere Gefängnisse rund um La Paz besucht haben. Zwei davon liegen weit außerhalb der Stadt – fast zwei Stunden sind nötig, um sie zu erreichen. Das andere ist das ‚berühmte‘ San Pedro. Es liegt mitten in der Innenstadt und beherbergt über 2000 Häftlinge. Es wird auch als ‚Gefängnisstadt‘ bezeichnet, da hier häufig ganze Familien wohnen, in acht verschiedenen Vierteln mit Höfen und Baracken. Die Wohlhabenderen leben in Zellen, die teilweise mehrere Räume umfassen. Einige sind sogar mit Fernseher und Gasherden ausgestattet. In den Sektionen der Reichen gibt es sogar Kindergärten für die Kleinen, und Tourguides führen mutige Touristen durch das Areal. Es gibt Läden und Restaurants. Aber der Eindruck von einem friedlichen Leben fast wie in Freiheit trügt. Frei sind hier nicht einmal die Reichsten. Und die Ärmsten? Sie enden hier im wahrsten Sinne des Wortes im Dreck – dort gibt es nichts außer Anarchie und Crack.  Für die Street Doctors sind die Einsätze dort die gefährlichsten, denn hinter den Mauern von San Pedro herrschen eigene Gesetzte: Lediglich das Verlassen wird von Wärtern kontrolliert, ansonsten regieren die sogenannten Gefängnisbosse – Männer, die selber Inhaftierte sind. Hier haben Dealer, Mörder und Vergewaltiger das Sagen. Dieses interne, eigenständige Verwaltungs- und Machtsystem der Häftlinge führt zu Bandenbildung und Gewalt. Bestechung und Korruption stehen an der Tagesordnung und der Drogenhandel floriert.

Mit einer kurzen Bewegung schüttelt Dra Alejandra den Gedanken an San Pedro ab. Noch ist sie mit ihrem Team ein paar Stunden hier im Frauengefängnis und versorgt weiter die Kranken. Nach einem langen Tag werden sie sich schließlich wieder auf den Heimweg machen – im Bus dann auch unter ihnen Stille. Jeder wird über die heutigen Patienten nachdenken, sich fragen, ob es ihnen besser geht und in welchem Zustand sie sie in 14 Tagen antreffen werden. So auch Dra Alejandra. Sie sieht den kleinen Wuschelkopf, wie er schlapp vor ihr liegt. Sie weiß, dass er keine Woche länger mehr ohne ärztliche Unterstützung durchgekommen wäre. Sie weiß, dass ihre Hilfe heute ein Leben gerettet hat. Beim nächsten Besuch steht derselbe Wuschelkopf hoffentlich deutlich kräftiger und stabil auf eigenen Beinchen vor ihr – und wer weiß, vielleicht haben seine großen dunklen Augen dann sogar ein Lächeln für sie übrig.

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